Ulrike Kremeier (German Version)

Vom Glanz des P/Ost/Modernen

Der Begriff Interjektion bezeichnet in der Sprachwissenschaft Lautäußerungen wie beispielsweise ein lakonisch in den Raum geworfenes „Ach“. Die Betonungen dieses Lauts können vieles bedeuten: wahlweise Erstaunen, Entsetzten oder distanziertes Interesse zum Ausdruck bringen. Immer jedoch mäandert sich ein Hauch des fragenden Mitleids oder des Seufzens in besagtes Empfindungswort. Wenn Andrea Pichl eine Installation mit „Ach“ (2020) betitelt, mischt sie in den Unterton dieses Ausdrucks des Bedauerns noch eine Prise wohlmeinender Ironie. Die somit erzeugte Ambivalenz deutet ihre bevorzugten Themen und Sujets, respektive ihre künstlerische Annäherung daran an. Vielfach widmet sich die Künstlerin den Rändern, Grenzverläufen und Verformungen, die sich in den Nachmodernen des Kalten Krieges an den Schnittstelle von privatem und öffentlichen Raum herausgebildet haben. Ein spezieller Fokus liegt hierbei auf der gesellschaftlichen Bedeutung von architektonischen und urbanen Räumen in denen die Übergänge zwischen klassischen Modernen, Postmoderne und Spätmodernen von mannigfaltigen Brüchen sowie ihre ästhetischen Parameter eingeschrieben sind.Andrea Pichls im Jahr 2020 entstandene Installation „Ach“ findet ihre Form in einem skulptural-hybriden Setting, das aus recycelten Zäunen, Gips, Beton und Kies besteht. An einem mit Goldlack besprühten, gebrauchten Gartenzaunelement entlangschlendernd endet der Blick der Betrachterin zunächst an einer quer stehenden, klobigen Gartentür. Die geometrisch-ornamentierten Zaunmodule, deren Design auf die DDR verweist, erfüllten bis zum Moment des Ausrangiertwerdens der sichtbaren Begrenzung eines Territoriums und somit vielfach die Schnittstelle zwischen privatem (oder zumindest privat genutztem) und öffentlichem Raum. In der Mitte der in einer Scheinsymmetrie angelegten Installation finden sich zwei in der Diagonalen auf dem Boden gespiegelte Quadrate, die mit Form und Farbe spielen: eine Seite ziert eine  graue Bodenplatte aus Beton inmitten eines Quadrates pink eingefärbten Sandes, auf der anderen Seite kehrt sich das dreidimensionale Bild um und wird zu einem Carrée aus schneeweißen Kieselsteinen dessen Mitte von einem pink durchgefärbten Betonquadrat markiert ist.Die beiden, aus verschiedenen Materialien hergestellten Quadrate, die in den Farben Weiß, Grau und Pussy Head-Pink gehalten sind, erinnern an Werke von Victor Vasarely (geb. 1906, Pécs / Ungarn – gest. 1997, Paris / Frankreich). Die dreidimensional wirkenden OP-Art-Bilder Vasarelys prägen seit den 1960er Jahren die öffentlichen Räume in vielen Städten Frankreichs und darüber hinaus. Jene teilweise bereits in den 1940er Jahren entstandenen, geometrisch-abstrakten Bilder wurden als künstlerische Interventionen im urbanen Kontext implementiert.  Einer kulturpolitischen Setzung folgend wurden die Werke dadurch zu Zeichen für die intendierte Demokratisierung des Zugangs zu Kunst.Ebenso Teil der Pichlschen Installation sind niedrige Gipskolonnen, deren Einzelelemente aus Abformungen von Küchen- und Gartengefäßen besteht. Diese aufeinandergestapelten Formmodule verweisen auf Standardplastikeimer- und Schüsseln des alltäglichen Gebrauch einerseits, stellen andererseits aber auch Bezüge zu Skulpturen wie der „Endlosen Säule“ von Constantin Brancusi (geb. 1876, Hobița / Rumänien, gest. 1957, Paris), die in unterschiedlichen Varianten sowohl für Innenräume als auch Stadträume existieren.Jenes Verweben von Verweisen auf Alltags-, aber gleichermassen auch Kunst- und Kulturgeschichte ist ein wesentliches inhaltliches und formales Merkmal der Arbeit von Andrea Pichl. Ihr präzise kalkuliertes Spiel mit den Bedeutungsebenen und Referenzsystemen verweist über die Erscheinungsformen auf substantielle Fragen nach gesellschaftlichen und kulturellen Identitäten sowie deren systemische Rahmenbedingungen, die sich an ästhetischen Aneignungen festmachen lassen. 

Immer wieder baut Andrea Pichl theoretische und praktische Bezüge zu den diskursiven Grundlagen der Postmoderne auf, die durch die Architektin und Urbanistin Denise Scott Brown (geb. 1931, Nkana / Nordrhodesien, lebt und arbeitet in Philadelphia / USA) und ihren Mann, den Architekten Robert Venturi (geb. 1925, Philadelphia, gest. 2018 ebenda) geprägt wurden.Die Studie „Learning from Las Vegas“ die in den Jahren 1966 bis 1972 unter der Federführung von Scott Brown und Venturi entstanden ist, läutete einen Paradigmenwechsel in der Bewertung der klassischen Modernen ein. Dem Leitsatz der Moderne „less is more“ setzten Scott Brown und Venturi „less is a bore“ entgegen und plädierten für die Funktionalität des Populären. Funktional seien nicht die Bauwerke der Moderne, sondern die an die Alltagsbedürfnisse der breiten gesellschaftlichen Masse angepassten, sicherlich mitunter als hässlich oder zumindest nicht im klassischen Sinne als schön zu bezeichnenden Formen des Bauens. 

Während sich in den vergangenen Jahren die Diskurse um die Modernen in der DDR und den ehemaligen Ostblockländern durchaus entwickelt hat, wird die Postmoderne immer noch mehrheitlich als Phänomen der westlichen Welt diskutiert. 

Als Andrea Pichl und ich uns im Jahr 2001 erstmalig begegnet sind, war sie eine der Wenigen, die sich innerhalb ihres künstlerischen Werks bereits damals mit Themenkomplexen befasst, die  auf Fragen nach dem bzw. den Ostmodernen und der Postmoderne in der DDR basierten. Ästhetische und gesellschaftspolitische Fragen des sozialistischen Wohnens und dem Städtebau der DDR waren spätestens Mitte der 1990er Jahren in den Urbanismusdebatten angelangt. In der Bildenden Kunst kochte in dieser Zeit der – bis heute nicht sehr produktiv geführte und schon gleich gar nicht zur Auflösung gebrachte – deutsch-deutsche Bilderstreit. Es ging hierbei in der Regel mehr um Formen statt um Inhalte, weniger um Diskurse als vielmehr um Hegemonien, Definitionsmächte und Deutungshoheiten. Konzeptuelle künstlerische Ansätze, die genau jene kulturellen und künstlerischen Differenzen zum Thema hatten und in einer ästhetischen Reflexion die Formensprachen sowie den sozialen Kontexten ostdeutscher (Kultur-)Geschichten und Perspektiven mündeten, sind immer noch selten, markieren jedoch auch immer noch und anhaltend den Nukleus des Oeuvres von Andrea Pichl. Jene Auseinandersetzung ist in Teilen durch Biographie und Sozialisationserfahrung der Künstlerin motiviert. Und zu just diesem Leben gehören auch die prägenden Erlebnisse einer Jugendlichen, die in den 1980er Jahren Teil (parallel-)kultureller Entwicklungen und Kunstszenen in der DDR war. 

Bei einem meiner ersten Streifzüge im Sammlungsdepot des Brandenburgischen Landesmuseums für moderne Kunst im Sommer 2012 fielen mir zwei großformatige Ganzkörperportraits auf. Gemalt im neoveristischen Stil der 1980er Jahre der DDR blickte mich eine fast lebensgroße, in cooler New Wave-Klamotte gekleidete und ein bisschen abwesend wirkende junge Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur aus der Höhe des Hängegitters im Gemäldedepot an. Irgendwie kam mir diese Person, der der Eigensinn auf die Stirn geschrieben war bekannt, ja, geradezu vertraut vor.  Eines schönen Tages lüftete ein Kollege im Vorbeigehen das Rätsel: Bei der Frau, die auf den Bildnissen „A.P.“  zu sehen ist, handelt es sich übrigens um die in Berlin ansässige Künstlerin Andrea Pichl. Obschon die (bis heute anhaltende!) Ähnlichkeit zwischen der Figur auf den Bildnissen und der realen Person unübersehbar ist, stehen sich die künstlerischen Vorstellungen, die den Portraits anhaften und dem Kern des Pichlschen Oeuvres geradezu diametral entgegen. Und trotz dieser Widersprüchlichkeit (er)schloss sich dennoch auch ein gewisser Kreis. Denn die Perspektive von der ausgehend Andrea Pichl ihr künstlerisches Handeln entwickelt hat, ist geprägt von der Identitäts- und Gesellschaftserfahrung einer Person, die immer als kritische Grenzgänger zwischen Mehrheitsgesellschaft(en) und sozialen Rändern agiert hat. Der Pichlsche Blick ist ein explizit ostdeutscher Blick, der aber weder auf die DDR, noch auf den Osten beschränkt ist. Im Resultat des Kunstschaffens als gesellschaftlicher und ästhetischer Praxis geht es Andrea Pichl vielmehr darum Bezüge, Parallelen und Divergenzen systemischer Bedingungen zu reflektieren sowie Kontextualisierungen herzustellen. Hierbei unterzieht sie zunächst die geschichtlichen, aber auch die gegenwärtigen Realitäten ebenso wie die Visionen und Utopien einer ästhetischen Untersuchung. Ein besonderes Augenmerk legt die Künstlerin dabei auf (visuelle) Normbildungen und Standardisierungsversuche der Geschichte, die darauf abzielten Bild-, Raum-, Architektur- oder Stadtformen als Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Utopie zu postulieren. 

Diese Projektionen einer perfekten oder zumindest perfekt imaginierten Welt, die durch kollektive Ordnungssysteme gekennzeichnet ist, konterkariert Andrea Pichl durch präzsie gedachte, jedoch teilweise mit leicht rotzig improvisierter Geste gemachte Werke. Skulpturen und Installationen kokettieren beizeiten mit Do-it-yourself-Ästhetik, Improvisationsanmutungen, Recycling und somit bewusst gesetzter Imperfektion.

Offensichtlich wird dieses formale Prinzip Andrea Pichls nicht nur in dreidimensionalen Werken, sondern auch in Fotografien und Papierarbeiten. So basiert beispielsweise die Bildserie „Stasizentrale 1 – 11“, 2020 (Buntstift auf Papier, je 29,7 x 21 cm) auf eigens fotografierten Bilder, die die Künstlerin dann in Zeichnungen überführt hat. Die so entstandenen bunten Bilder auf Standard DinA4-Papier zeigen Ausschnitt von Innenräumen der Stasizentrale in Berlin. Nie werden Räume in der Totalen gezeigt, vielmehr lässt die Künstlerin einen fragmentierenden Blick über Deckenlampen, Zimmerecken, Treppenhausgeländern etc schweifen. Die nüchterne Beiläufigkeit mit der diese unspektakuläre gestalteten Innenräume in den Blick genommen werden vergegenwärtigen einerseits ihre erschreckende Banalität, wird aber andererseits durch die fast kindlich wirkende Buntstiftzeichnung nochmals betont. Durch Perspektive und formalen Ausdruck wird der historisch aufgeladene Ort „entzaubert“: weder seine Bedeutung als Ort der Repression, noch als Schauplatz an dem im Januar 1990 Bürgerinnen und Bürger mit einem Sturm auf das Gebäude der Aktenvernichtung Einhalt geboten haben, ist in den Zeichnungen erkennbar. 

Dieser geschichtlichen Dimension, die sich in ihrer Wichtigkeit und Tragweite ohnehin nicht  in Bilder fassen lässt, überschreibt Andrea Pichl durch die ihre künstlerische Bildkonzeption geradezu. Der Repräsentation der faktischen Macht von Orten der (staatlichen) Kontrolle und Normierung wird gebrochen, wenn eine Künstlerin sie sich dieser Repräsentation durch ihren Blick und ihren formalen Gestus determiniert bemächtigt. Und genau dieses Verfahren der Aneignung durch Verschiebungen sowie Überschreibungen von Ikonographien, Zeichen- und Wertsystemen dienen Andrea Pichl dazu das Vertraute in neue, andere Kontexte zu stellen und einer kritischen Selbstermächtigung zu unterziehen. Zur Disposition stellt Andrea Pichl allerdings nicht a priori die sozialen Utopien der Vergangenheit an sich, vielmehr nährt sie den Zweifel an der Starrheit staatlich verordneter und technokratisch umgesetzter Normierungen. Wenn Andrea Pichl die Formen der Utopie mit den Formen des universellen Kleinbürgertums verknüpft geschieht dies mit einer gewissen Lust an der einen, aber auch der anderen Form und ihren Versatzstücken. Die leise Ironie, die den Grundton des Oeuvres von Andrea Pichl kennzeichnet basiert immer auf der ernsthaften, gleichermassen behutsamen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Realitäten. Jedoch ist dieser Ansatz auch von der Erkenntnis durchzogen, dass oft absurderweise der kleinbürgerliche Gestaltungswille ungewollt zur renitenten Geste gegen die uniformierenden Standardisierungsformeln grosser gesellschaftspolitischer Vision gerät. Und somit markiert der goldglänzende Sprühlack auf ornamentierten Gartenzaunmodularen postmoderne Transformation- und Aneigungsprozesse der Ostmoderne. 

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