Sven Beckstette (German version)

Die Internationale Unsolidarität

In diesem Frühjahr überraschte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Republik mit ungewohnt privaten Einblicken in ihre Biografie. Sonst nicht gerade redselig, wenn es um Persönliches geht, erzählte die CDU-Politikerin bei einer Kinovorführung in Berlin Anekdoten aus ihrer Jugend in der DDR. Bei Partys sei sie für den Alkohol zuständig gewesen, habe Westjeans getragen und zur Musik von den Beatles, Simon & Garfunkel und Serge Gainsbourg geschwoft. Nur, als ein Journalist der Bild-Zeitung die gute Laune verderben wollte und sie auf ihre Rolle als FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin Anfang der 1980er Jahre ansprach, wechselte Merkel vom Konkreten ins Allgemeine: Sie sei zuallererst aus Gemeinschaftsgründen Mitglied in dem sozialistischen Jugendverband gewesen und habe ihn als einen Raum erfahren, der auch unpolitischere Aktivitäten ermögliche. Die Harmonie war wieder hergestellt. Und so lautete die Schlagzeile am nächsten Tag daher auch nicht „Bundeskanzlerin fordert dazu auf, dass Ost- und Westdeutsche auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer unvoreingenommen und offen über ihre Erfahrungen und Lebensläufe miteinander sprechen müssen“, sondern „Angela Merkel: Bei Uni-Feten war ich Bardame“.

Merkels Bekenntnis zu zweifelhaften Cocktails aus Whiskey und Kirschsaft fand im Rahmen der Gesprächsreihe „Mein Film“ statt, bei der die Deutsche Filmakademie Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben einlädt, ihr Lieblingskinowerk vorzustellen. Die Bundeskanzlerin entschied sich für „Die Legende von Paul und Paula“, jener surreal-realistischen Liebesgeschichte mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder, die 1973 in der DDR als Zeichen des Aufbruchs verstanden wurde: eigentlich drohte dem Film ein Aufführungsverbot. Erich Honecker höchstselbst setzte sich jedoch dafür ein, dass „Die Legende von Paul und Paula“ in die Kinos kam, weil er darin die Themen der jungen Menschen wiederfand. Tatsächlich wurde der Film ein Kassenschlager und gilt heute als ein Meilenstein der DDR-Kinogeschichte. Eine gute, aber auch abgesicherte Wahl der Kanzlerin also.

Die Probleme der Jugend, die Honecker in dem Film erkannte und deren Thematisierung seinen Erfolg ausmachte, waren zuallererst auch Wohnungsprobleme: immer noch herrschte Mangel an Wohnraum. Im Jahr, in dem „Die Legende von Paul und Paula“ in die Kinos kam, wurde im Zentralkomitee der SED, dem seit 1971 Honecker vorstand, deshalb ein Wohnungsbauprogramm verabschiedet. Darin war vorgesehen, bis 1990 jedem Bürger der DDR eine angemessene Bleibe zur Verfügung zu stellen. Allein in Berlin sollten bis dahin etwa 230.000 Wohnungen gebaut und 100.000 modernisiert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte die Bauakademie auf den massiven Einsatz der Plattenbauweise, ein auf Industrialisierung basierendes Architekturkonzept, mit dem sich mittels genormter und vorgefertigter Einzelteile schnell und kostengünstig Wohnraum schaffen lässt. Die Folgen dieses Plans sind im Kleinen schon in „Die Legende von Paul und Paula“ zu sehen: gleich zu Beginn werden runtergekommene Altbauten gesprengt. Daneben sieht man eine frisch errichtete Plattenbauzeile. Die Zerstörung von bestehenden Gebäuden folgte der ideologischen Vorstellung, dass die durch Hinterhöfe geprägte Häuserstruktur der Altbauten als kapitalistisch galt, weil sie eine Rückzugsmöglichkeit ins Private ermöglichte. Demgegenüber förderten Plattenbausiedlungen das Gemeinschaftsgefühl und den Kollektivgeist im Sinne des Sozialismus, da der Einzelne in den Wohnanlagen aufgehen solle. „Die Legende von Paul und Paula“ zeigt jedoch, dass das Zusammenleben im Plattenbau zu einer Entmenschlichung führe, die in Anonymisierung ende. Zwar haben die neuen Gebäudekomplexe deutlich mehr Komfort als etwa eine der noch mit Kohle beheizten Wohnungen in Friedrichshain, in der auch Paula lebt, im Vergleich zu den Bewohnern in der Platte erweist sich der Zusammenhalt unter den Nachbarn jedoch als wesentlich stärker und verbindlicher. „Die Legende von Paul und Paula“ beharrt auf Emotionalität, Menschlichkeit und Individualität und setzt sich damit gegen die Rationalität eines gesellschaftlichen Systems, das in der standardisierten Architektur des Plattenbaus seinen betonierten Ausdruck fand.

Die Baukampagnen der 1970er und 1980er Jahre in der DDR waren die größten Projekte sozialen Massenwohnungsbaus in Deutschland. Tatsächlich finden sich ähnlich umfangreiche Anstrengungen in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum nicht. Der weitreichende Einsatz von standardisierter Architektur in der DDR hat dazu geführt, dass der Plattenbau nach der Wende zum Symbol der untergegangenen DDR geworden ist.

Dass der Plattenbau aber mitnichten ein reines Phänomen der DDR gewesen ist, macht Andrea Pichl in ihrer Arbeit deutlich. Die Künstlerin betrachtet die internationalen Auswirkungen dieser Form des Wohnungsbaus. Denn natürlich beschränkte sich die Verwendung des Plattenbaus, der eine preiswerte und wirtschaftliche Lösung für Wohnraumfragen versprach, nicht allein auf den Osten Deutschlands, ja nicht einmal auf den Ostblock. Die Anstöße für den Plattenbau in der DDR kamen direkt aus Moskau. Nach dem Tod von Stalin positionierte sich Chruschtschow gegen den von seinem Vorgänger bevorzugten neoklassizistischen Architekturstil und propagierte demgegenüber das industrialisierte Bauen. Diese Richtungswende zum Plattenbau wurde seit 1955 auch in der DDR vollzogen. Jedoch hat Pichl auf ihren Reisen die Spuren des Plattenbaus auch in westlichen Ländern gefunden.

Seit 2008 sammelt Pichl in einem Archiv eigenhändig aufgenommene Fotos und gefundene Grundrisse der Wohnblöcke, die sie im In- und Ausland aufgesucht hat. Inzwischen hat die Künstlerin Dokumente zu Plattenbauten aus den Großstädten London, Paris, Berlin, Dublin und Taschkent zusammengetragen. Aber auch zu einigen Siedlungen in der ehemaligen DDR hat sie Informationen gesammelt. Dieses Material dient ihr einerseits als Grundlage für Installationen wie Doublebind(2011), bei der Fotos aus ihrem Bestand auf einen Baukörper projiziert werden, dessen Maße einer Plattenbauwohnung der DDR entsprechen. Wirft man jedoch einen Blick in ihre Datenbank, dann lässt sich in dem unabgeschlossenen Archiv andererseits eine Arbeit eigenen künstlerischen Rechts erkennen.

Bislang enthält die Fotosammlung von Pichl etwa 1.000 Aufnahmen. Eine Auswahl von 250 Bildern ist in diesem Band zusammengestellt. Auffallend ist, dass Pichl die Fotos nicht kontextualisiert: Weder Orts- noch Zeitangaben geben darüber Auskunft, wann und vor allem wo das Bild entstanden ist. Außerdem zeigt sich, dass die Künstlerin sich für Details wie etwa für ein Balkonstück genauso interessiert wie für die übergeordnete Rasterstruktur der Fassaden, die aus der Verwendung schematisierter Bauelemente resultiert. Weiterhin gibt es die Gebäude kaum vollständig zu sehen: Auch wenn nicht deutlich ist, in welcher Stadt die Fotos jeweils aufgenommen wurden, lassen sich dennoch Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Komplexen erkennen, die darauf schließen lassen, dass es sich hierbei um ein und dieselbe Siedlung handelt. Doch selbst diese Bilder ergeben zusammen gesehen keinen endgültigen Überblick über den Wohnblock im Ganzen. Dazu ist der Kamerastandpunkt häufig gleich. In den allermeisten Fällen sind die Bilder von Augenhöhe aus geschossen worden. Hintereinander betrachtet, wirken sie wie unsystematische Streifzüge durch die Plattenbauareale.

Diese Wanderungen scheinen in hermetisch abgeschlossenen Zonen stattgefunden zu haben. Denn über die Gegend, die außerhalb der Wohnanlagen liegt, erhält der Betrachter keine Informationen. Befindet sich das Gebiet am Rande oder im Zentrum der Stadt? Gibt es überhaupt eine Infrastruktur? Und vor allem: Lebt überhaupt jemand hier? Denn Tatsache ist, dass die Bauten nahezu verwaist erscheinen. Die einzigen Hinweise, die darauf schließen lassen, dass an diesem Ort Menschen wohnen, sind Handtücher, die zum Trocknen auf die Balkone gehängt wurden, Satellitenschüsseln, Klimageräte und vereinzelte Blumenkübel.

Durch diese Leblosigkeit tritt die Hauptgemeinsamkeit der Plattenbausiedlungen in den Vordergrund. Alle befinden sich im Zustand des Verfalls. Diese Verwahrlosung tritt besonders dann eklatant in den Vordergrund, wenn Ornamente und Zierrat zu sehen sind, durch die der Brutalismus und die Monotonie gebrochen werden sollten, deren Hoffnungsschimmer inzwischen jedoch verblasst erscheint. Plattenbauten, und das zeigen die Bilder von Pichl, folgen keiner politischen Ideologie. Sie sind aber Beispiele dafür, wie sich eine Gesellschaft erschwinglichen Wohnraum und das Zusammenleben der Menschen, die sich häufig nichts anderes leisten können, darin vorstellt.

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