Zwischenräume – Zu den skulpturalen Arbeiten von Andrea Pichl
„Ich habe mehrmals versucht, an eine Wohnung zu denken, in der es ein überflüssiges Zimmer gäbe, ein ganz und gar und absichtlich überflüssiges Zimmer. Es wäre keine Abstellkammer gewesen, es wäre kein zusätzlicher Raum gewesen, weder ein Flur noch ein Kabuff noch ein Schlupfwinkel. Es wäre ein funktionsloser Raum gewesen. Er hätte zu nichts genützt, er hätte auf nichts verwiesen.
Es ist mir trotz aller Anstrengungen unmöglich gewesen, diesen Gedanken, dieses Bild zu Ende zu verfolgen. Die Sprache selbst, so schien mir, hat sich als untauglich erwiesen, dieses Nichts, diese Leere zu beschreiben, als ob man nur von dem reden könne, was voll, nützlich und zweckmäßig ist.“
—Georges Perec, Träume von Räumen
Architektonische Entwürfe und Stadtplanungen der klassischen Moderne wie der Nachkriegsmoderne bilden die Bezugspunkte für die Skulpturen, Fotografien, Zeichnungen, Collagen, Bühnenbilder und Ausstellungsdisplays von Andrea Pichl. Aufgewachsen in Ost-Berlin, setzt sie sich dabei immer wieder mit der Gestaltung des öffentlichen und privaten Raums in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern sowie mit den Umbauprozessen nach der deutschen Wiedervereinigung auseinander. Aber ihre Recherchen erstrecken sich auch auf Wohnsiedlungen und Platzanlagen in westeuropäischen Städten wie Paris, Dublin oder London. Sie untersucht die Realitäten der mit der modernen Architektur verbundenen gesellschaftlichen Visionen, wobei sie bevorzugt mangelhafte und unstimmige Elemente, groteske dekorative Module, aus der Zeit gefallene Denkmäler und Leerstellen im urbanen Gefüge ins Zentrum rückt. Mit einem aufmerksamen Blick fürs Detail befragt sie die Utopien der Moderne, die im sozialistischen Wohnungs- und Städtebau eine eigene Ausprägung erfahren haben, und widmet sich den Nahtstellen im städtischen Raum, an denen unterschiedliche architektonische und soziale Ordnungen aufeinander treffen: “Mich interessieren nicht so sehr die Utopien selbst, sondern mehr das Scheitern dieser. Und das im Detail: Was sind die fehlerhaften und dysfunktionalen Elemente, die ästhetischen Fehlgriffe, die oftmals aus ökonomischen Zwängen heraus entstanden sind.” (1)
Einen Schwerpunkt in ihren Untersuchungen bildet die Fertigbauweise, die seit den 1920er Jahren den Wohnungsbau in der funktional gedachten Stadt bestimmt hat. (2) Dabei reichen die Beispiele, auf die sie sich zeichnerisch, fotografisch und skulptural bezieht, vom modularen System, das Architekten für die vom Fabrikanten Tomás Batá in den 1920er Jahren im tschechischen Zlín errichtete neue Stadt entwickelten, über den industriellen Wohnungsbau in Plattenbauweise, wie er in der DDR praktiziert wurde, über das 1965 vom Fluxus-Manager George Maciunas propagierte „Prefabricated Building System“, das sich am sowjetischen Betonplattenbau orientierte, bis hin zum sozialen Wohnungsbau der 1970er und 1980er Jahre in den Pariser Vorstädten. Pichl greift einzelne Elemente und Module aus diesen architektonischen Systemen heraus, verkleinert sie maßstäblich oder hebt Details hervor, um sie zu neuen Strukturen zusammenzusetzen. Dabei konterkariert sie sowohl in den skulpturalen Arbeiten, die aus handelsüblichen Materialien wie Pappe, Holzplatten, Plexiglas oder Kunststoffplatten gefertigt sind, wie in den fotografischen Detailaufnahmen, die sie auf ihren Streifzügen durch verschiedene urbane Zonen festhält, das Ideal der perfekten funktionalen Lösung. Sie richtet den Blick auf „natürliche Mängel“ (3) im Massenwohnungsbau, ohne jedoch die Architektur der Moderne pauschal in Frage zu stellen: „Aber mich reizen die Missbildungen, sie zu übertreiben. Beispielsweise findet man direkt neben Eingangssituationen der DDR-Platte etwas höher gelegene Balkone, an die sehr brutal wuchtige Betonplatten rangehängt wurden. Darüber und oft auch darunter gibt es häufig ungenutzte Zwischenräume ohne Funktion und ästhetischen Wert, so als würde nichts zusammenpassen.“ (4) In der Arbeit Doublebindbeispielsweise, die 2011 für die Ausstellung „Architektonika“ in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof in Berlin entstand, thematisiert die Künstlerin die standardisierten und optimierten Wohnungsformate des DDR-Plattenbaus, indem sie die Umrisse einer 4-Raum-, einer 2-Raum- und einer 1-Raum-Wohneinheit in Form eines Stecksystems im Maßstab 1:2 übereinander fügt. Auf die aus unterschiedlichen Materialien und Oberflächen gefertigten Platten des Stecksystems projiziert sie Fotografien, die Architekturdetails aus Wohnsiedlungen unterschiedlicher Länder und konkurrierender politischer Systeme zeigen. Mit der raumgreifenden Skulptur werden die Widersprüche zwischen den mit dem Massenwohnungsbau auf die eine oder andere Weise verbundenen Wohlstandsversprechen und dem ernüchternden Alltag in diesen Siedlungen in den Fokus gerückt.
Mit ihren auf den modernen Wohnungsbau bezogenen Arbeiten bewegt sich die Künstlerin im Kontext einer künstlerischen Befragung der Moderne, wie sie in jüngerer Zeit etwa die documenta 12 unter der Fragestellung „Ist die Moderne unsere Antike?“ oder die Ausstellung „Modernologies. Contemporary Artists Researching Modernity and Modernism“ 2009 in Barcelona vorgestellt haben. (5) Vor dem Hintergrund der breit gefächerten Auseinandersetzung mit den ästhetischen, sozialen, ökonomischen und philosophischen Paradigmen der Moderne rücken Künstlerinnen und Künstler wie Dan Graham, Stephen Willats, Absalon, Dorit Margreiter, David Maljkovic, Sabine Hornig, Maix Mayer und Andrea Pichl speziell die moderne Architektur in Ost und West ins Zentrum ihrer Untersuchungen. Dabei sind es oft die Diskrepanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen vorgestellter Zukunft und tatsächlich eingetretener Realität, die den Anlass für eine künstlerische Arbeit geben.
Auch im städtischen Raum sind es die Fehlstellen und Zwischenräume, die das Interesse von Pichl wecken. So rekonstruiert sie in einer Folge von drei Skulpturen mit dem Titel „zwischen“ von 2012 die auf den ersten Blick kaum wahrzunehmenden Hohlräume, die sich zwischen einigen historischen Bauten und den aus den 1980er Jahren stammenden Plattenbauten in der Linienstraße in Berlin-Mitte befinden. Die aus Holzplatten zusammengefügten Skulpturen bilden im Maßstab 1:10 die Lücken zwischen den verwinkelten Altbauten und der rechtwinkligen Platte nach. Den Ausgangspunkt für diese Arbeit lieferte ein Artikel in einem der Stadtentwicklung Berlins gewidmeten Heft der Architekturzeitschrift Arch+, in dem über diese Baulücken und ihre Vermessung berichtet wird. Der Autor des Artikels verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit Fake Estatesdes Künstlers Gordon Matta-Clark, der in den 1970er Jahren ähnliche Restflächen im Stadtgebiet von New York ersteigert hatte, um sie später in Form von schriftlichen und fotografischen Dokumentationen sowie von vertraglich geregelten Übertragungen als Kunstwerke zu verkaufen. (6) Während im Falle des nicht zu Ende geführten Projekts von Matta-Clark die Immobilienspekulation in einer Stadt wie New York reflektiert und der städtische Raum als ein Produkt von politischen, sozialen und ökonomischen Prozessen erfahrbar wird, verweisen die Baulücken in Berlins Mitte auf die „Differenz zwischen bürgerlicher Vergangenheit und modernem Sozialismus“ und werden als „Handlungslücken“ und „Möglichkeitsräume“ verstanden. (7)
Andrea Pichl interpretiert ihrerseits den Negativbestand im urbanen Raum skulptural und folgt damit einem plastischen Verfahren, das der Künstler Bruce Nauman in den 1960er Jahren als Materialisierung des „negativen Raums“ unter einem Stuhl oder zwischen zwei rechteckigen Körpern thematisiert hat. Dabei interessierte ihn das Verhältnis von Innen und Außen und die Verschränkung von plastischem Körper und Umraum: „Negativer Raum bedeutet für mich, dass ich über die Unterseite und die Rückseite von Dingen nachdenke. […] Sowohl was innen als auch was außen ist, entscheidet darüber, wie wir physisch, psychisch und psychologisch reagieren, wie wir einen Gegenstand wahrnehmen.“ (8) Das von Nauman in verschiedenen Materialien ausgeführte Verfahren macht insbesondere das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit angesichts eines entsprechenden Körpers erfahrbar: „Die Materialisierung eines solchen negativen Raums macht ein Volumen, einen Zwischenraum erfahrbar, der anders kaum wahrnehmbar ist, und zugleich vermittelt die entsprechende Skulptur ein starkes Bewusstsein von Abwesenheit – von Abwesenheit der positiven Form.“ (9) Anders als Nauman und anders als die Künstlerin Rachel Whiteread, die das Verfahren des Abnehmens einer Negativform auf architektonische Körper übertragen und komplette Innenräume im Maßstab 1: 1 nachgebildet hat, stellt Pichl in ihrer Skulpturengruppe „zwischen“ eine Differenz zur ursprünglichen Größe der Baulücken her. Diese Differenz verleiht den Skulpturen eine Eigenständigkeit, die sie als abstrakte, polygonale Körper ihrer konkreten Herkunft entrückt. Zugleich entspricht ihre Ausrichtung im Ausstellungsraum der tatsächlichen stadträumlichen Situation, sodass sie doch verortet sind. Auf diese Weise gelingt es Pichl, ihre skulpturalen Arbeiten im Zwischenraum zwischen Abstraktion und Konkretion anzusiedeln.
Anmerkungen
1. Andrea Pichl, zit. nach: Andrea Pichl, Ausstellungskatalog Mies van der Rohe Haus, Berlin 2011, 25.
2. Vgl. Christine Hannemann, Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Wiesbaden 1996; Annett Zinsmeister(Hg.), Plattenbau oder Die Kunst, Utopie im Baukasten zu warten, Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen 2002; Matilda Felix, „Stadtkonzepte im Maschinenzeitalter“, in: Gabriele Knapstein, Matilda Felix(Hg.), Architektonika. Kunst, Architektur und Stadt, Ausstellungskatalog Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin/Nürnberg 2013, 76–83.
(engl. Übersetzung: “City Concepts in the Machine Age,” in Architektonika: Art, Architecture and the City, 84–89,)
3. “Inherent Shortcomings” (Natürliche Mängel) lautete der Titel der Einzelausstellung von Andrea Pichl 2011 im Irish Museum of Modern Art, Dublin.
4. Andrea Pichl, Andrea Pichl, 26.
5. Vgl. documenta Magazine N° 1, Modernity?, Georg Schöllhammer (Hg.), Kassel/Bonn 2007; Sabine Breitwieser (Hg.), Modernologies. Contemporary Artists Researching Modernity and Modernism, Ausstellungskatalog, Barcelona 2009.
6. Vgl. Alexander Koch, „Option Lots. Eine Recherche von brandlhuber+“, in: Arch + Zeitschrift für Architektur und Städtebau201/202 (März 2011), 106–09. Zu Gordon Matta-Clarks Projekt Fake Estatessiehe z. B. Judith Russi Kirshner, „The Idea of Community in the Work of Gordon Matta-Clark“, in: Corinne Diserens(Hg.), Gordon Matta-Clark, London/New York 2003, 147–60.
7. Alexander Koch, „Option Lots “, 107.
8. Bruce Nauman, „Das Schweigen brechen. Ein Interview mit Joan Simon (1987)“, in: Christine Hoffmann (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967–1988, Dresden/Amsterdam 1996, 154f.
engl. Original: “Negative space form me is thinking about the underside and the backside of things. […]Both what’s inside and what‘s outside determine our physical, physiological, and psychological responses – how we look at an object,” Joan Simon, “Breaking the Silence: An Interview with Bruce Nauman,” in Bruce Nauman, ed. Robert C. Morgan (Baltimore: Johns Hopkins University Press 2002), 274–75.
9. Gabriele Knapstein, „NegativerRaum,“ in: Eugen Blume, Gabriele Knapstein u.a. (Hg.), Bruce Nauman. Ein Lesebuch, Berlin/Köln 2010, 237f.